Weil sie 47 Chromosomen hatte

Das Mädchen Christa Maar wurde 1943 im Alter von 9 Jahren im hessischen Hadamar von deutschen Nazi-Ärzten ermordet.

Von Lilli Wörner

Christa kam im Frühling 1935 in Frankfurt am Main zur Welt. Doch ihre Mutter starb schon, als sie gerade drei war, und ihr Vater konnte sich nicht um sie kümmern. Er glaubte, dass es ihr in einem Kinderheim besser gehen würde. Er liebte Christa und schrieb ihr regelmässig liebevolle Briefe (s. Foto) und schickte ihr Geburtstagsgeschenke. Als Christa sieben Jahre alt war starb auch ihr Vater, und sie wurde in die Pflegeanstalt im hessischen Hadamar verlegt. Tatsächlich aber war es keine Pflegeanstalt, sondern eine Tötungsanstalt der Nazis. Sie brachten Christa dort im Februar 1943 kurze Zeit nach Ihrer Ankunft um. Der Grund: Christa hatte das Down-Syndrom.

„Die Nazis wollten alle Menschen, die nicht ihren Idealen entsprachen, aus der Gesellschaft ausgrenzen und wegsperren“, sagt Claudia Stul, pädagogische Mitarbeiterin von der
Gedenkstätte Hadamar. Für Menschen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen oder psychischen Erkrankungen bedeutete das, dass sie vermehrt in Anstalten untergebracht wurden. „Da Menschen in Anstalten, aus Sicht der Nazis, nicht arbeitsfähig waren und dem Staat und ihren Angehörigen nur zur Last fallen, ermordeten sie sie“.


Ein Foto von Christa aus dem Jahr 1940 im Alter von etwa 5 Jahren (Quelle: Archiv des Landeswohlfahrtverbandes Hessen, K 12 Nr. 957)

Neben Christa wurden in der Zeit zwischen Januar 1941 und März 1945 rund 15.000 Menschen mit Behinderung in Hadamar durch die Gaskammer, Todesspritze oder Verhungernlassen ermordet. Die Nazis hielten Menschen mit Behinderung für lebensunwert, bezeichneten sie als unnütze Esser. Hitler erlaubte in einem Brief 1939 sie umzubringen und leitete damit den Massenmord an Menschen mit Behinderung ein. Insgesamt wurden bis Ende des Krieges in ganz Deutschland etwa 300.000 Menschen mit Behinderung umgebracht.

Schon lange bevor Christa nach Hadamar kam war die Tötungsaktion der Nazis dort voll im Gange. Drei graue Busse fuhren nahezu jeden Tag von Hadamar los in andere Pflegeheime und kamen im Laufe des Tages von dort mit etwa 30 Personen zurück. Man geht heute davon aus, dass alle von ihnen schon gleich am Ankommenstag in Hadamar umgebracht wurden. Sie wurden in der sogenannten Busgarage, die aus Holz war und heute noch steht, nacheinander rausgelassen und mussten durch einen kleinen Gang von der Garage in die Anstalt hineingehen. Es gab keinen anderen Weg außer diesem Gang. Einzeln wurden sie dann in den Warteraum gebracht, wo sie sich umziehen und einen alten Militärmantel anziehen sollten. Alles andere, das sie besassen, mussten sie ablegen. Wertvolle oder weiter nutzbare Sachen behielten die Nazis aber oft oder verkauften sie weiter. Anschließend sollten sie sich dem Arzt vorstellen. Er beschloss dann, welche Todesursache nach der Ermordung im Totenschein für die Angehörigen stand, z.B.: Hirnhautentzündung, um die Ermordung zu vertuschen und zu verheimlichen.

Ähnlich war es bei Christa: für ihren Tod wurde eine angebliche Darmentzündung verantwortlich gemacht und in ihrer Krankenakte notiert. Tatsächlich aber gaben die Ärzte ihr eine Überdosis an Medikamenten, um sie zu ermorden, vermuten Experten heute.


Brief von Christas Vater an seine Tochter vom 7. Mai 1940:

Liebe Christa!

Zu Deinem Geburtstag habe ich Dir eine Karte geschrieben. Anbei noch eine Puppe und Schippe und Eimer zum Sand spielen. Ich wünsche Dir zu Deinem Geburtstage alles Gute und wäre an diesem Tag gerne bei Dir; Süßigkeiten kann ich Dir leider keine schicken, da ich nichts bekommen habe.

Es grüßt Dein Papa.

An die (Kinder-, red.)Schwester:

Sende anbei einige Sachen für den Sommer, und nehme an, dass Sie es für den Sommer gebrauchen können. Kleider, welche zu kurz sind, können Sie ja länger machen. Ich danke Ihnen hierfür im voraus.

Dann möchte ich Sie bitten, mir einige Zeilen zu senden, wie es Christa geht. Das Bildchen ist von meinem Kinde. Recht herzlichen Gruß

H. M.

(Quelle: Archiv des Landeswohlfahrtverbandes Hessen, K 12 Nr. 957)



Anderen wurde einfach immer weniger zu Essen gegeben. Oder sie wurden durch Giftgas ermordet: Ihnen wurde gesagt, dass sie sich duschen gehen könnten. Es sind dann immer ca. 50 Personen gleichzeitig in die angebliche Duschkammer gegangen. Dort befand sich ein Duschkopf, der jedoch nur eine Attrappe war. Als alle drinnen waren, wurde giftiges Kohlenmonoxidgas über ein durchlöchertes Metallrohr an der Wand in die Kammer eingelassen. Dieser Vorgang dauerte nur ca. 10 Min. Das Lüften der Kammer dauerte dann allerdings 1-2 Stunden.

Wenn die Ermordeten unter Krankheiten litten, die noch nicht gut erforscht waren, wurden sie nach der Ermordung in einen separaten Raum geschliffen, dort ihr Gehirn entnommen und an Forschungsanstalten zur Untersuchung verschickt. Danach wurden sie wie die anderen Ermordeten in den Krematoriumsofen geschoben und eingeäschert. „Was mit der Asche der Ermordeten geschah, das wissen wir heute nicht genau“, sagt Claudia Stul. Sie wurde wohl teilweise auf verschiedene Friedhöfe verteilt. Später, als die ermordeten Menschen nicht mehr eingeäschert wurden, haben die Nazis sie auf dem Friedhof der Tötungsanstalt Hadamar einfach verscharrt, häufig lagen so zwischen 10-20 Menschen in einem Grab.

Der Trauerbericht wurde erst wenige Tage bis mehrere Wochen nach dem Tod an die Angehörigen geschickt, damit sie noch länger Pflegekosten bezahlen mussten.


Die "Grauen Busse" transportierten Menschen mit Behinderung aus anderen Pflegeheimen nach Hadamar, wo sie ermordet wurden (Quelle: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 3008/1, Nr. 1012)

„Soweit wir wissen, zum Beispiel aus Gerichtsprozessen, waren die allermeisten des Tötungspersonals von den Mordaktionen überzeugt, mit einigen sehr wenigen Ausnahmen“, sagt Claudia Stul. Nach dem Krieg fanden zu den Morden in Hadamar zwei Gerichtsprozesse statt. Drei Personen wurden zum Tode verurteilt und auch hingerichtet. Einige Täterinnen und Täter mussten Haftstrafen verbüßen, kamen aber zumindest teilweise durch Begnadigungen und vorzeitige Haftentlassung wieder frei. Andere sind ganz freigesprochen worden.

„Das Wichtige für heute ist, nicht wegzuschauen, sich Unrecht, Diskriminierung und Rassismus in der Gesellschaft bewusst zu machen, damit so etwas nicht mehr passiert“, sagt Claudia Stul. Dazu gehört, sich aufmerksam und kritisch zu informieren, um Rechtsextremismus zu erkennen und dagegen einzustehen. „Das kann auch etwas ganz Kleines sein, etwa das Widersprechen von Aussagen des Klassenkameraden oder der Klassenkameradin, die andere Menschen diskriminieren oder die Geschichte des Nationalsozialismus verharmlosen“.


Das sagen Menschen mit Down-Syndrom heute dazu:


Veronika Hammel, ehemalige
Ohrenkuss-Redakteurin, schreibt im Ohrenkuss-Magazin (Ausgabe 14, Jenseits von gut und böse): „Wenn ich damals gelebt hätte, dann hätten die mich auch weggenommen, weil der Hitler keine behinderten Kinder gemocht hätte. Der hätte mich dann auch getötet“ (Foto: Britt Schilling).


Carina Kühne schreibt: „Meine Mutter hat erzählt, dass der Hitler die Leute mit Down-Syndrom nicht wollte. Ich denke mal, wenn die auch tot waren, haben sie die auch reingesteckt ins Krematorium oder links liegen gelassen. Wie ich auch auf Fotos gesehen habe, wie die Leute ohne Sachen auf einen Haufen liegen. Das ist schon schrecklich. Für die Häftlinge war das ein böser Ort und für die Bewacher ein guter Ort, vielleicht wollten sie es ja so, vielleicht hat es ihnen Spass gemacht“ (Foto: Jörg Farys).


Johanna von Schönfeld schreibt: „Ich bin froh! Dass die Zeit vorbei ist. Weil das Geschehen nicht mehr auftauchen sollte. Denn es ist wichtig, dass man sich das Geschehen ins Gedächtnis ruft. Weil es gut und wichtig ist, darüber zu sprechen“ (Foto: Swelana Gasetski).


Ohrenkuss-Redakteurin Svenja Giesler schreibt im Buch Touchdown - die Geschichte des Down-Syndroms: „Ich habe das Down-Syndrom, aber ich stehe dazu. Ich bin kein Alien, denn ich bin so wie ich bin. Jeder soll es verstehen und mich respektieren“. (Foto: Britt Schilling) ag


Was ist das Down-Syndrom?
Menschen mit dem Down-Syndrom besitzen in jeder ihrer Zellen ein Chromosom mehr als andere Menschen, nämlich 47 statt 46 Chromosomen. Bei ihnen ist das Chromosom Nummer 21 dreimal statt zweimal vorhanden. Dieser Unterschied beeinflusst auch körperliche Merkmale wie etwas die Grösse, Auffälligkeiten an der Kopfform, Auge und Ohren, Körperhaltung. Auch treten manche Erkrankungen häufiger auf. Heute werden Menschen mit Down-Syndrom 60 Jahre alt und älter, und können, je nachdem wie stark sich das Down-Syndrom auf den einzelnen Menschen auswirkt, durch Förderung lesen und schreiben lernen, kreativ sein und ihr eigenes Leben führen. (ag)